Was ist Zeitgenössischer Tanz?

Eine Annäherung von Johannes Odenthal

Wir schauen heute auf eine Tanzgeschichte von 120 Jahren zurück, in der immer neue Bewegungsformen entstanden sind, der menschliche Körper als einzigartiger Wissensspeicher, als Medium des Lernens und Transformierens erforscht wurde, als Ort von Selbstbestimmung und Identität. Wir können von einem Jahrhundert des Tanzes sprechen, das in Begriffen wie Freier Tanz, Neuer Tanz, modern dance, postmodern dance, Ausdruckstanz und Tanztheater, Butoh oder Nouvelle Dance und vielen mehr als Teil der Moderne gelesen wird.

Eine Auswahl an einflussreichen Choreograf*innen der jüngeren Vergangenheit versammelt die Plattform Calypso: calypso.tanzzeit-berlin.de

Dabei wird Moderne oft mit dem Zeitgenössischen gleichgesetzt. Das Zeitgenössische ist ein vager Begriff, weil er sich in einem beständigen Wandel befindet, eine offene Struktur hat, immer neu in jeder gesellschaftlichen und kulturpolitischen Situation bestimmt werden kann. Trotz dieser formalen Offenheit gibt es Prinzipien, Grundlagen zeitgenössischen Tanzschaffens, die ich zu beschreiben versuche und die sich von der Moderne absetzen.

Hilfreich ist hier die postkoloniale Perspektive auf die Moderne, die eindeutig als ein Projekt des Westens gelesen werden kann, ein Projekt, das exklusiv zur europäischen und nordamerikanischen Identität und Philosophie gehört. Die Linearität der Moderne und ihre hegemoniale Machtstruktur, in der die Tänze Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas zwar rezipiert, aber als traditionelle Formen stigmatisiert und aus der Kunst ausgeschlossen wurden, ist durch die Emanzipation von Künstler*innen weltweit obsolet geworden.

Es ist der sehr späte Aufbruch aus kolonialer Entmündigung, der mit den Befreiungsbewegungen in den 60er Jahren beginnt und inzwischen die Kunstszenen weltweit neu geordnet hat. Okwui Enwezor hat diesen Aufbruch in der Ausstellung „The Short Century“ 2001 und dann in der documenta 11 exemplarisch aufgezeigt. Die Kunstszenen haben sich seitdem weltweit in diesem aufklärerischen und emanzipatorischen Sinne verändert.

Mit dem in Nigeria geborenen Okwui Enwezor wurde 2002 erstmals ein Nicht-Europäer documenta-Leiter.
© documenta archiv, Foto: Ryszard Kasiewicz /
Quelle

Wie kaum ein anderer hat der französische Schriftsteller und Philosoph Edouard Glissant (1928 – 2011) der Linearität der westlichen Moderne eine Absage erteilt und das alternative Konzept von Gleichzeitigkeit entworfen, in der unterschiedliche Wissensformen gleichberechtigt miteinander wirken können. Wenn William Forsythe Studierende ermutigt, so viele Techniken und Körpersprachen zu erlernen wie möglich, um das Potential von Entscheidungen für die Zukunft zu erweitern, dann bedeutet das für die Tanzausbildung genau das, was Glissant für eine zukunftsfähige Kultur einfordert. Es ist die Aufforderung dazu, eine möglichst große Freiheit zu erlangen, sich für Dinge zu entscheiden, sich auf Neues einzulassen und damit Eigenverantwortung zu übernehmen.

Edouard Glissant gilt als einer der intellektuellen Vordenker zu Fragen postkolonialer Identität und Kulturtheorie.
© Pierre Pytkowicz / Quelle

So wird Forsythe zitiert in dem Band Tanztechniken 2010, herausgegeben von Ingo Diehl und Friederike Lampert für Tanzplan Deutschland (Seite 18). Alle dort befragten Lehrer*innen von Tanzausbildungen beschreiben die Techniken des Zeitgenössischen Tanzes als einen ständigen Wandel. Der Leitfaden für die Analyse der umfassenden Recherche umfasst Fragen zu Ort, gesellschaftspolitischen Zusammenhängen, zu biographischem Hintergrund, zu relevanten theoretischen Diskursen, zu Körperverständnis, Gender, Raum, zu ästhetischer Intention, anderen Kunstpraktiken, zu Qualität und Didaktik und Methodik. Allein dieser Ausschnitt aus Fragestellungen zeigt die komplexe Einbindung der zeitgenössischen Tanzszene in gesellschaftliche und kulturpolitische Bezüge, die notwendigerweise zu immer neuen Konstellationen führt.

 

Insofern ist Zeitgenössischer Tanz Vielfalt, nicht eine Technik, eine Ästhetik.

 

Die Offenheit der zeitgenössischen Tanztechniken wird zudem wesentlich erweitert durch das Somatische Arbeiten, die Entwicklung von Wahrnehmungs-Techniken, Release, Alexander-Technik, Eutonie, die Feldenkrais-Methode oder Body-Mind Centering, um nur einige zu nennen. Die Vorstellung von Körperwissen, vom Potential der Körpererfahrung und Transformation ist in den letzten 100 Jahren exponentiell gewachsen.

Die Installation „Nowhere and Everywhere at the Same Time“ von William Forsythe macht Besucher*innen zum Bestandteil einer
„lebhaften Choreografie vielfältiger und komplexer Ausweichstrategien“. © William Forsythe, Foto: Dominik Mentzos / Quelle

Die Körperforschung hat einen neuen Wissenshorizont erschlossen, der für den zeitgenössischen Tanz ein einzigartiges Potential bedeutet. Während Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Reformpädagogik, der Lebensphilosophie und den Aufbrüchen im Freien Tanz der Körper als Medium der Selbstbestimmung, vor allem für Tänzer*innen, ideologisch aufgeladen war, so bewegen sich Tänzer*innen heute in einem neuen Wissenschaftsfeld kritischer Praxis auf der Basis körperlicher Forschungen.

Gleichzeitig hat sich das Konzept von Bühnentanz als Ereignis zwischen Performer*in und passiv wahrnehmendem Publikum verändert. Das Schlüsselwort ist Partizipation, das gemeinsame Lernen, das neue rituelle Praktiken entstehen lässt. So entwickeln sich immer neue Formate im Öffentlichen Raum, werden Interventionen von Demonstrationen übertragen in den Kontext der Kunst, entwickeln sich Formate der Teilhabe und Inklusion, die endgültig mit dem exklusiven Konzept der Moderne brechen.

Die hier beschriebenen Veränderungen – eine postkoloniale Neubestimmung von Kunst und Kultur, das Forschungsfeld Körper und die Öffnung der traditionellen Veranstaltungskonzepte – sie habe ich als Kriterien beschrieben für das, was ich unter zeitgenössischem Tanz verstehe.

Das Projekt „tanz:digital“ des Dachverband Tanz Deutschland unterstützt Akteur*innen bei der Entwicklung
innovativer choreografischer/künstlerischer Formate.
 Quelle

Gefragt nach den brennenden Herausforderungen für den Tanz in der Gegenwart wird es nicht die eine Antwort geben. Dennoch wage ich zumindest zwei Themen zu nennen, mit der sich die zeitgenössische Kunst ebenso wie der Tanz aktuell auseinandersetzen muss. Für zentral halte ich die Frage, wie die Tanzszene ihren eigenen Raum parallel zur fortschreitenden Digitalisierung und der KI behaupten kann. Ich sehe die zeitgenössische Tanzszene als eine wichtige Antwort auf das Fehlen ritueller Praxis der Gemeinschaftsbildung, der Verbindung von individueller Exposition und sozialer Kraft. Jede Tanzaufführung, jeder Workshop und jede tänzerische Praxis ist eine Antwort auf die Digitalisierung. Der Tanz als körperbasierte Kunstform übernimmt hier wie keine andere Sparte eine große Verantwortung, besitzt ein unendliches Potential als Widerstand, als Befreiung und als Dialogpartner. So wie sich die Fotografie als Kunstform gegen die Bilderflut der mobilen Endgeräte neu aufstellen muss, so wird das auch der zeitgenössische Tanz im realen Raum tun.

 

Der Tanz als körperbasierte Kunstform übernimmt hier
wie keine andere Sparte eine große Verantwortung.

 

Eine ähnlich große Chance sehe ich in Bezug auf die Umweltzerstörung und Klimakrise der Gegenwart. Die Rückbesinnung auf den menschlichen Körper als Basis unserer Existenz und als Teil der Natur wird zum Resonanzboden einer anderen Wahrnehmung und eines anderen Handelns. Hier wachsen das traditionelle Wissen vorchristlicher Kulturen und die zeitgenössischen Tanzszenen zusammen. Der Zeitgenössische Tanz besitzt eine eigene reiche Tradition an Wissen, das auf den Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte basiert und in der kulturellen Vielfalt und Diversität unserer Gegenwart zum Ausdruck kommt. Die Umweltzerstörung ist mit den Menschen existentiell verbunden. Der Raubbau an der Umwelt spiegelt sich in der Ausbeutung des Individuums, von Minderheiten oder kollektiven Verausgabungen wie im Krieg oder Terror.

Auf der Website environmental-dance.com versammelt Christoph Winkler Videos und Interviews mit Künstler*innen aus verschiedenen Weltregionen,
die sich dem Thema Klimawandel mit der Ausdrucksform des Tanzes nähern.
Quelle

Auch wenn ich zuvor den Zeitgenössischen Tanz als Antwort auf die hegemoniale Struktur der Moderne beschrieben habe, so ist die Tanzmoderne auch das historische Fundament der Zeitgenössischen Tanzszene. Wenn wir die Grundimpulse, die Prinzipien und Intentionen vom Ausdruckstanz oder modern dance mit denen des Zeitgenössischen Tanzes abgleichen, so werden die Kontinuitäten sichtbar. Die Triebkräfte der Entwicklung waren und sind Emanzipation aus sozialer Enge und Beschränkung, der Kampf gegen Ungerechtigkeit, die Behauptung von Anders-Sein, ob bezogen auf den eigenen Körper, auf die sexuelle Ausrichtung, auf ethnische, sprachliche oder klassenspezifische: immer wird der zeitgenössische Tanz zu einem Feld von Widerstand, von Differenz, von Emanzipation.

 

Der zeitgenössische Tanz ist ein Forum der Selbstermächtigung.

 

Am deutlichsten wird das ablesbar an den zahllosen Solo-Produktionen: die Behauptung eines eigenen Raumes, einer eigenen Sichtbarkeit. Die Behauptung von Differenz und Vielfalt, von Identität auch jenseits nationaler Definitionen und Restriktionen. Und gleichzeitig ist der zeitgenössische Tanz ein Forum der Selbstermächtigung. Die Präsenz auf einer Bühne vor Menschen ist die radikale Auslieferung jenseits aller Verschleierungen von Identität. Eine Herausforderung, die immer mehr junge Menschen annehmen, um ihren Weg zu finden. Hier wird deutlich, dass ein Festhalten an formalen ästhetischen Kategorien nicht zielführend ist für die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes.

Wichtig ist, dass der Begriff „Zeitgenössisch“ möglichst nicht als ein Wertbegriff eingesetzt wird, der über die künstlerische Qualität mitentscheidet. Ich möchte dafür ein Beispiel geben: Der zeitgenössische afrikanische Tanz wurde sehr stark definiert durch die Plattformen, zu denen die Festivalvertreter*innen vor allem aus Europa regelmäßig gepilgert sind, um ihre Programme zu entwickeln. Für viele afrikanische Künstler*innen war das die einzige Möglichkeit, ihre künstlerische Arbeit mittelfristig zu finanzieren. Diese Plattformen wurden entscheidend geprägt durch die europäischen Mittlerorganisationen. Die Frage bleibt, wie neokoloniale Strukturen die Definition von Zugehörigkeit erneut mitbestimmen. Deswegen plädiere ich für ein Konzept der Gleichzeitigkeit im Sinne von Edouard Glissant, für ein „archipelisches“ Denken und Handeln jenseits exklusiver Positionen, ein Konzept der Selbstbefragung und Offenheit ohne Hierarchien.

 

Literatur 

  • Edouard Glissant, Traktat über die Welt, Heidelberg 1999
  • Edouard Glissant, Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite, Heidelberg 2003
  • Tanztechniken 2010 – Tanzplan Deutschland, Herausgegeben von Ingo Diehl und Friederike Lampert, Leipzig 2011
  • Das Jahrhundert des Tanzes. Ein Reader, Herausgegeben von Johannes Odenthal, Berlin 2019

 

Über den Autor

© gezett

Johannes Odenthal ist Mitgründer der Zeitschrift tanz aktuell 1986, heute TANZ. Er war künstlerischer Leiter für Musik, Tanz und Theater im Haus der Kulturen der Welt (1997–2006) und von 2006 bis 2022 Programmbeauftragter der Akademie der Künste, Berlin. Zum Tanz veröffentlichte er zuletzt „Das Jahrhundert des Tanzes“ im Alexander Verlag 2019, „Ismael Ivo. Ich glaube an den Körper“ und „Ins Offene. Nele Hertling – Neue Räume für die Kunst“, beide bei Spector Books 2022.

 

 

Dieser Text wurde erstellt im Auftrag von TANZKOMPLIZEN – Tanz für junges Publikum.

Creative Commons License
This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.