von Raphael Moussa Hillebrand
Was bedeutet der Begriff Zeitgenössischer Tanz für uns heute?
Zeitgenössischer Tanz wird oft als direkter Nachfahre des Postmodernen Tanzes betrachtet. Als dieser Begriff entstand, versprach er, dass alle Stile darin Platz finden würden. Doch dieses Versprechen wurde bisher nicht vollständig eingelöst. Bis heute gibt es im Zeitgenössischen Tanz Ausschlüsse, über die wir uns immer mehr bewusst sind.
Deshalb ist es meiner Meinung nach an der Zeit, sich vom alten Verständnis des Zeitgenössischen Tanzes zu verabschieden und den Begriff neu zu definieren: Es ist Zeit für einen Zeitgenössischen Tanz 2.0.
Historie
Blicken wir zurück auf die Entwicklung des Tanzes, so werden diese Ausschlüsse deutlich sichtbar. Die Postmoderne Tanzrevolution hat ihre historischen Wurzeln im New York der 70er Jahre, insbesondere in der Judson Church Bewegung. Obwohl sie sich selbst als eine offene Bewegung sah, gab es in der Realität keine signifikanten Schnittpunkte mit den marginalisierten Tanzstilen, die zur gleichen Zeit in derselben Stadt entstanden sind, wie Breaking und Voguing. Es war damals schwer vorstellbar, dass ein B-Girl oder eine Voguerin an einer Jam in der Judson Church teilnimmt oder dass eine Tänzerin aus der Judson Church in einen Hip-Hop Cypher einsteigt. Hip-Hop und Voguing entstanden aus der Notwendigkeit, sich in einem rassistischen und heteronormativen System zu behaupten. Ihr Tanz wurde zu einer Überlebensstrategie. Das Leben in einem rassistischen Patriarchat setzte sie so stark unter Druck, dass dieser Druck ihr künstlerisches Thema war. Während postmoderne Tänzer*innen öfter die Freiheit und das Privileg haben, sich ihr Thema auszusuchen und eine künstlerische Forschung anzustreben.
Meine Erfahrung
In meinem Studium Zeitgenössischer Choreographie fragte unser Professor, auf was wir uns in unserem Semesterprojekt kaprizieren wollen. Dieses Wort musste ich erstmal nachschlagen. Die Definition ist, sich willkürlich auf etwas festlegen. Ich kannte dieses Kaprizieren nicht. Beim Breaken hatten unsere Shows zwar auch Themen, aber in erster Linie ging es darum, einen Charakter zu kreieren, der möglichst stark und beeindruckend ist, damit Leute meine Existenz anerkennen. Da dachte ich, die Freiheit, zu kaprizieren, gehört eben Künstler*innen des Zeitgenössischen Tanzes. Mein eigener Gedanke spiegelt hier eben jenen Ausschluss, von dem ich spreche: Breaken ist auch eine zeitgenössische Kunstform, wird aber in Sprache und Geist von der Zeitgenossenschaft ausgeschlossen. Obwohl ein Ausschluss aus der Gegenwart ja eine Unmöglichkeit ist. Wir müssen anerkennen, dass es neben dem Zeitgenössischen Tanz 1.0 Strömungen gab und gibt, die die Zeitgenossenschaft teilen.
Es hat 20 bis 30 Jahre gedauert, bis Zeitgenössischer Tanz 1.0, Vouging, Breakin‘ und viele andere Tanzstile in einen tatsächlichen Austausch miteinander kamen, und heute immer öfter auf denselben Bühnen und in denselben Diskursen auftauchen.
Gesellschaftliche Entwicklung
Spätestens seit 2020 durch die George Floyd Bewegung und davor durch #MeToo, ist die Gesellschaft sich so bewusst geworden über bestehende Ausschlüsse und Ungerechtigkeiten, dass Zeitgenössischer Tanz 1.0, so wie er bisher praktiziert wurde, nicht mehr bestehen kann. Tanz von weißen für weiße, bei dem marginalisierte Körper zwar Teil des Narrativs sein können, bei dem aber das bestehende und praktizierte Machtgefälle nicht hinterfragt wird, ist nicht mehr zeitgemäß. Es reicht nicht mehr aus, Diskriminierung nur da wahrzunehmen, wo eine böse Absicht besteht, aber nicht im System selbst. Es ist Zeit, den machtkritischen Anspruch, den wir mittlerweile in unserer Gesellschaft haben, auch im Zeitgenössischen Tanz zu leben und systematische Diskriminierung aufzulösen.
Wir müssen eine Gleichberechtigung schaffen. Und Gleichberechtigung bedeutet eben nicht nur ein Verständnis von Gleichheit (equality), sondern die Etablierung einer echten Teilhabe (equity). Das heißt, andere Tänze bedürfen vorerst einer extra Plattform, um auf gleicher Höhe zu sein.
Zeitgenössischer Tanz ist Kreolisierung
Gleichberechtigung und Gleichzeitigkeit. Davon spricht auch mein Kollege Johannes Odenthal in seinem Text zum Thema „Was ist zeitgenössischer Tanz“. Ich möchte mich bei ihm bedanken für die Vielschichtigkeit seiner Überlegungen und dafür, dass er mich auf einen Widerspruch gestoßen hat: Einerseits nennt Odenthal die Tanzmoderne als Wurzel des Zeitgenössischen Tanzes, andererseits erkennt er die exkludierende hegemoniale Machtstruktur in diesem Denken, das die Moderne als Linearität begreift, und plädiert für ein “archipelisches” Denken nach Edouard Glissant, in dem unterschiedliche Tanzformen gleichzeitig und gleichberechtigt miteinander wirken können.
So schreibt Odenthal zu Beginn: “[…] so ist die Tanzmoderne auch das historische Fundament der Zeitgenössischen Tanzszene.“ Doch zum Ende appelliert er: “[…] Deswegen plädiere ich für ein Konzept der Gleichzeitigkeit im Sinne von Edouard Glissant, für ein „archipelisches“ Denken und Handeln jenseits exklusiver Positionen […]“ Ich denke, eine Gleichzeitigkeit verschiedener Tanzformen jenseits exklusiver Positionen und Hierarchien kann es nur geben, wenn wir aufhören, die Tanzmoderne als wesentliches Fundament des zeitgenössischen Tanzes zu definieren.
Ich bezweifle, dass die zeitgenössische Peking Oper auf dem Fundament der westlichen Moderne ruht oder dass ein Headspin sich aus dem Ausdruckstanz entwickelt hat(zwinkern). Es gibt viele unterschiedliche Tanztraditionen auf dieser Welt, die sich gegenseitig beeinflussen und heute nicht mehr klar voneinander zu trennen sind. Glissants “archipelisches” Denken ist ein Schritt zu diesem Verständnis. Es geht davon aus, dass Identitäten von Menschen tatsächlich Beziehungsidentitäten sind, die sich wie Rhizome entwickeln. Wie Wurzeln graben sie sich in die Erde und strecken gleichzeitig ihre Zweige zu allen Seiten nach anderen Wurzeln aus. Rhizome haben kein festes Fundament, sie befinden sich im steten Wandel, so wie Identitäten nicht festgeschrieben sind, sondern sich im Austausch mit Anderen immer wieder neu definieren. Ein Prozess, der Kreolisierung genannt wird.
Zeitgenössischer Tanz ist Kreolisierung, die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher gegenwärtiger Bewegungsformen, die frei von Hierarchie neben, mit und durch einander existieren und in ihrer Essenz eins sind: Tanz. Das Fundament für diesen Tanz ist die gesamte globale Tanzhistorie.
Darum brauchen wir eine Definition von Tanz, bei der klar ist, dass jede Form von musikalischer Bewegung Tanz ist. Wir brauchen eine Definition, die ihre eigene Position innerhalb eines Unterdrückungssystems reflektiert und die Verantwortung übernimmt, machtkritisch zu sein und den ungerechten Systemen, aus denen sie hervorgeht, auch etwas entgegenzusetzen. Eine Definition, die den westlichen Überlegenheitsgedanken demontiert und anerkennt, dass die ethische und moralische Überlegenheit auf der anderen Seite des Mittelmeeres liegt. Im Zeitgenössischen Tanz 2.0 muss es darum gehen, Gleichgewichte zwischen westlicher und nicht-westlicher Weltsicht, zwischen kultureller Aneignung und kulturellem Miteinbeziehen, zwischen Geben und Nehmen zu schaffen.
Sasha Amaya, die ich sehr schätze als Künstlerin und Denkerin, stellt in ihrem Text „On Dancing in the Now“ die Frage:“ What do we mean when we say contemporary dance?“ Unter Fachleuten scheint dies eine komplizierte Frage zu sein. Für die breite Öffentlichkeit ist der Begriff wohl viel leichter zu verstehen. Sie erzählte mir wie Ihr Zahnarzt sie fragte was sie beruflich mache. Sie antwortete darauf, daß sie zeitgenössischen Tanz mache. Der Zahnarzt erwiderte welchen zeitgenössischen Stil sie denn meine. Er zeigte damit seine Offenheit zeitgenössischen Tanz auf das hier und jetzt zu beziehen und nicht Auf eine bestimmte Tradition. Vielleicht müssen wir diese Offenheit in die Fachdiskurse zurückholen.
Definition Zeitgenössischer Tanz 2.0
Ich schlage vor, Zeitgenössischen Tanz 2.0 wie folgt zu definieren: Alle Tanzformen, die gegenwärtig stattfinden und nicht primär dazu dienen, archivarische Funktionen zu erfüllen, gelten als zeitgenössisch. Dies umfasst sowohl Tanzstile, die nicht aus der westlichen Tradition stammen, wie beispielsweise Lateinamerikanische Tänze, afrodiasporische oder urbane Tänze sowie Clubtänze, als auch solche, denen wir oft die politische Dimension absprechen.
Der Begriff Zeitgenössischer Tanz 2.0 soll nicht primär eine bestimmte Ästhetik markieren, sondern vielmehr eine zeitliche Verortung und eine soziale Positionierung darstellen. Er soll eine inklusive Perspektive fördern und es unmöglich machen, Menschen oder Kunstformen ihre Zeitgenossenschaft abzusprechen. Subgenres werden weiterhin existieren, um Stile zu benennen.
Zeitgenössischer Tanz 2.0 muss nicht zwangsläufig aus einer westlich-akademischen Tradition hervorgehen, um als zeitgenössisch betrachtet zu werden. Die gesamte globale Tanzhistorie bildet den Nährboden, der von einem Rhizom durchzogen ist. Dieses Rhizom bildet die Grundlage für Pflanzen. Diese Pflanzen sind unsere Körper. Und unsere Körper erblühen im Tanz.